Ricardo Bär Nele Wohlatz Gerardo Naumann

AR-2013, 96 Min, OmeU

Drehbuch & Regie
Nele Wohlatz, Gerardo Naumann

Ton
José María Avilés, Carla Finco

Kamera
Lucas Gaynor

Schnitt
Felipe Guerrero

Produktion
Subterránea Films, Zentral Cine

  • English
  • Deutsch

Ricardo Bär is a young man who lives with his family on a little farm, near the border between Brazil and Argentina. There’s mainly the jungle and the settlers, descendants of german immigrants. Ricardo doesn’t want to inherit his father’s land; he wants to become a pastor. Problems arise when Ricardo and the community tell the directors to stop shooting and leave. From that moment on, RICARDO BÄR tells two stories: one about a deal the directors offer to Ricardo in order to get the permission to shoot the film, and the other about Ricardo’s life at this moment, his reaction to the directors’ offer, reenacted for the camera. (Viennale)

WERKSCHAU & MASTERCLASS NELE WOHLATZ

Do. 09.09.2021 19 Uhr Ricardo Bär (2013) + Kurzfilme
Fr. 10.09.2021 19 Uhr El futuro perfecto (2016) + Kurzfilme
Sa. 11.09.2021 15 Uhr Masterclass
Sa. 11.09.2021 17:30 Uhr El futuro perfecto (2016) + Kurzfilme

Freier Eintritt für Mitglieder Verbands Filmregie.

Der deutschstämmige Ricardo Bär lebt im Nordosten Argentiniens in einer entlegenen baptistischen Gemeinde, wo man Portunal – eine Mischung aus Spanisch und Portugiesisch – spricht und das Leben sich zwischen Laptop und Landarbeit abspielt. Eigentlich soll der junge Mann die Farm seines Vaters übernehmen, doch sein Lebensziel ist es, Pastor zu werden. Eine Ambition, der er sich mit Hingabe widmet. Der Film zeigt den Alltag in einer seltsamen, fremden Welt und ist gleichzeitig auch ein kritischer Essay darüber, wie die dokumentarische Lust am Anderen zum aggressiven Eindringen in einen hermetisch versiegelten Lebensraum wird. (Viennale)

WERKSCHAU & MASTERCLASS NELE WOHLATZ

Do. 09.09.2021 19 Uhr Ricardo Bär (2013) + Kurzfilme
Fr. 10.09.2021 19 Uhr El futuro perfecto (2016) + Kurzfilme
Sa. 11.09.2021 15 Uhr Masterclass
Sa. 11.09.2021 17:30 Uhr El futuro perfecto (2016) + Kurzfilme

Freier Eintritt für Mitglieder Verbands Filmregie.

Buenos Aires Festival Internacional de Cine Independiente 2013

Viennale 2013

FIDMarseillle 2013 | Sonder-Auszeichnung: First Film Prize

RICARDO BÄR, EIN REISETAGEBUCH (Quelle: Revolver Zeitschrift für Film https://www.revolver-film.com/ricardo-bar/ )

  • Nele Wohlatz und Gerardo Naumann:

    Dezember 2008
    Wir sitzen in einem Restaurant in Buenos Aires. Nele
    ist zu Besuch aus Deutschland in Argentinien. Ein Freund erzählt uns von
    deutschen Kolonien aus dem 19. Jahrhundert in der Provinz Misiones. Er zeichnet
    eine Landkarte auf die Rückseite der Speisekarte und markiert die Zonen mit den
    Kolonien. Nele überlegt, nach Argentinien zu ziehen, und im Scherz schlägt sie
    vor, diese Kolonisten zu suchen und zu gucken, was ihnen nach der
    Immigration passiert ist.

  • Nele Wohlatz und Gerardo Naumann:

    Mit der Speisekarte reisen wir kreuz und quer durch
    die Provinz. Wir erkennen „die Deutschen“ in den Städten von weitem am blonden
    Haar, aber wenn wir sie ansprechen, reagieren sie schüchtern. Wir denken,
    vielleicht ist es einfacher auf dem Land, wenn wir direkt auf ihre Höfe gehen.
    So landen wir auf dem Hof des Alten Reiss in Colonia Aurora. Er begegnet uns
    misstrauisch, aber als Nele ihn auf Deutsch begrüßt, lädt er uns auf die
    Veranda ein. Über dem Eingang seines Holzhauses steht auf Deutsch: Jesus liebt
    dich. Er spricht mit schlesischem Dialekt und verwendet eingedeutschte
    spanische Verben. Statt abhauen sagt er escapieren. Der Hof der
    Reiss ist wie ein uraltes Mini-Deutschland unter Palmen.

  • Nele Wohlatz und Gerardo Naumann:

    Wir bleiben in Aurora. Der Alte Reiss lädt uns für
    Heiligabend in seine Kirche ein, aber als wir auf seinen Hof kommen, ist er
    schon weggefahren. Wir wissen nicht, was tun. Wir haben kein Auto und die Sonne
    steht schon tief. Wir laufen zur Tankstelle, um etwas zu trinken. Von dort aus
    beobachten wir, wie eine Menge Pick-up’s vor einer anderen Kirche parken, etwas
    weiter entfernt. Das sind Baptisten, sagt man uns in der Tankstelle. Gerardo
    sagt, Obama ist Baptist, mehr wissen wir nicht. Wir setzen uns in die letzte
    Reihe und sehen das Krippenspiel: Jesus ist eine Puppe und die Tiere Kinder mit
    billigen Plastikmasken. Andauernd geht der Vorhang auf und zu. Das Spiel ist
    minimalistisch. Die Jugendlichen stehen auf der Bühne und bewegen den Mund zu
    einer Stimme, die hinter einem Vorhang versteckt vorliest. Das Spiel ist
    geprägt von tiefem Ernst. Was auf den ersten Blick wie schlichtes Laientheater
    wirkt, ist ein empathisches Reenactment, ein Dokumentartheater
    über den Ursprung ihres Glaubens. Später in der Nacht stellen wir uns vor,
    einen Dokumentarfilm wie ein Krippenspiel zu inszenieren, und mit der gleichen
    spielerischen Freiheit ein reales Ereignis darzustellen, wie sie es tun.

  • Nele Wohlatz und Gerardo Naumann:

    Dezember 2010
    Zwei Jahre später kommen wir mit einer Kamera und
    verfolgen die Vorbereitungen fürs Krippenspiel. Wir filmen einen der
    Jugendlichen, Ricardo, der auf seinem Hof die Krippe baut. Er sagt, dass
    seine Augen so blau seien, weil er soviel in den blauen Himmel schaut. Er macht
    eine Ausbildung zum Pastor. Zweimal die Woche nimmt er den Bus zum
    Baptisten-Institut in der Provinzstadt. Sein Vater ist dagegen, er braucht ihn
    auf dem Hof. Aber gegen eine Berufung durch Gott komme sein Vater nicht an,
    sagt Ricardo. Eines Tages begleiten wir ihn ins Institut. Im Bus
    bitten wir ihn für die Kamera zu spielen: er soll schläfrig tun und die
    Gardine zuziehen. Er versteht auf Anhieb was wir von ihm wollen, es macht ihm
    Spaß, genau wie im Krippenspiel. Wir beginnen, kleine Handlungen aus seinem
    Alltag mit ihm nachzuinszenieren.

  • Nele Wohlatz und Gerardo Naumann:

    April 2011
    Eines Tages kann der Pastor nicht zum Gottesdienst
    kommen und Ricardo soll zum ersten Mal die Sonntagspredigt halten. Vor dem
    Gottesdienst werden wir von der Gemeinde aufgefordert zu erklären, was wir
    filmen wollen. Wir steigen auf den Altar, skeptische Blicke treffen
    uns. Wir wissen nicht, wie wir ihnen sagen sollen, dass wir nicht nach
    einem vorgefassten Plan arbeiten, sondern uns von Ricardo leiten lassen wollen.
    Wir werden nervös. Gerardo macht Witze, die keiner versteht und Nele bringt
    kein einziges Wort raus.
    Trotzdem dürfen wir Ricardos Predigt filmen. Er
    spricht über Martin Luther. Wir laufen mit der Kamera auf dem Altar herum und
    filmen alles: ihn, die Gemeinde. Seine Hände fangen an zu zittern, aber das
    bemerken wir nicht. Immer öfter verhaspelt er sich. Nach dem Gottesdienst will
    er mit uns sprechen und wir gehen hinter die Kirche. Er sagt, er habe heute
    beim Beten die Stimme Gottes gehört und Gott habe ihm gesagt, seine Zukunft
    läge nicht in der Schauspielerei. Wir sind ratlos. Uns erscheint die Stimme
    Gottes eine Ausrede zu sein. Verbietet er sich seine offensichtliche Neugierde
    auf die Schauspielerei und unser Projekt vor der Gemeinde? Oder misstraut er
    uns wirklich? Wir rufen den Pastor an, hoffen er könnte uns helfen, aber
    es wird nur komplizierter: Nele trage „unangemessene Kleider“ und die Jungs
    kämen in Bermudas in die Kirche. Man habe uns hinter der Kirche Bier trinken
    gesehen. Niemand wisse, wer mit wem verheiratet sei und wovon wir leben, ob wir
    überhaupt echte Deutsche seien und ob wir die Kamera nicht „für Teufelswerk“
    einsetzten. Am Ende sagt er, wir sollten nie wiederkommen.

  • Nele Wohlatz und Gerardo Naumann:

    Mai 2011
    Wir begreifen, dass die Probleme, die mit unserem
    Auftauchen in Aurora angefangen haben, Teil eines größeren Konflikts sind: dem
    zwischen Stadt und Land. Dieser Konflikt ist so alt wie die Unabhängigkeit
    Argentiniens, aber bis heute akut. Damit es weitergeht, brauchen wir
    institutionelle Hilfe. Zurück in Buenos Aires treffen wir uns mit dem
    Präsidenten der argentinischen Baptisten. Er interessiert sich für Ricardo, der
    aus der Kolonie kommt und Pastor werden will. Außerdem glaubt er, es ist gut
    für die Kolonisten, ein bisschen Zeit mit jungen Leuten zu verbringen, die
    einen Film machen. Er sagt, sie könnten ihm ein Stipendium geben, um in Buenos
    Aires an einem offiziellen Institut Theologie zu studieren. Wir denken, dass
    das Stipendium Ricardo als Rechtfertigung vor der Gemeinde nützen könnte, um
    den Film zu machen. Wieder rufen wir den Pastor an. Als er Neles Stimme hört,
    will er auflegen, aber als wir das Stipendium erwähnen, sagt er, wir sollen uns
    treffen.

  • Nele Wohlatz und Gerardo Naumann:

    September 2011
    Zurück in Misiones. Zu der Verabredung mit dem Pastor
    kommen wir in unserer besten Kleidung. Wir haben einen Empfehlungsbrief der
    Baptistenzentrale und Dokumente über unsere Identität dabei:
    Universitätszeugnisse, unsere Heiratsurkunde, Fotos von Nele mit ihrer Familie
    in einem Blumengarten in Deutschland und Zeitungsartikel über Gerardos
    Theaterstücke. Der Pastor zeigt sich uns gegenüber ruhiger. Er lädt uns
    zum Gottesdienst ein.
    An diesem Sonntag spricht Gerardo wieder in der Kirche.
    Die Wörter, die er am meisten benutzt, sind: Fehler, Endschuldigung,
    Kultur, Regeln und Respekt. Am Ende zeigt er den
    Empfehlungsbrief, dann spricht der Pastor und sagt etwas Unerwartetes: Wir
    werden abstimmen, und zwar jetzt. Wer will, dass dieser Film gemacht wird, hebt
    die Hand.
    Erst bleibt alles still, dann recken sich zögerlich die Arme in
    die Höhe. Zuerst zwei, dann fünf, 20, 50, schließlich alle.

  • Nele Wohlatz und Gerardo Naumann:

    Oktober 2011
    Wir schreiben ein loses Drehbuch. Das Stipendium
    könnte ein geeignetes dramaturgisches Mittel sein, um unser Verhältnis, das
    zwischen Filmemachern aus der Stadt und Kolonisten in Misiones, zu erzählen.
    Dieses Verhältnis und nicht „das Andersartige“ der Kolonisten soll im Zentrum
    des Filmes stehen. Wir möchten erzählen von den Reaktionen, die wir mit
    unserem Filmprojekt ausgelöst haben, und von ihrer Reaktion auf unsere
    Reaktion. In Argentinien begegnen sich die Hauptstadt und die Provinzen
    mit Ignoranz, und unsere Konflikte zeigen diese Teilung. Eine der ersten Szenen
    ist zwischen Ricardo und seinem Professor aus dem Institut in der Provinzstadt.
    Er sagt Ricardo, dass „die vom Film“ ihm ein Stipendium anbieten, um in Buenos
    Aires zu studieren. Während des Drehs und innerhalb des Filmes hat
    Ricardo Zeit sich zu überlegen, was er mit diesem Angebot anfangen möchte.

  • Nele Wohlatz und Gerardo Naumann:

    November 2011
    Als wir zu drehen beginnen, diesmal mit Team, passiert
    wieder etwas Unerwartetes: Ricardo kommt nicht. Sein Vater lässt ihn nicht
    gehen, er muss auf dem Feld helfen. Wir bieten Ricardos Vater Tagelöhner zum
    Ersatz an. Er winkt ab: das sind alles Trinker, Indianer.
    Schließlich schlägt Gerardo vor selbst helfen zu können. Fortan
    erntet er gemeinsam mit Ricardo jeden Morgen Ananas, spritzt Gift und hängt
    Tabak zum Trocknen auf. Um 11.30 Uhr essen wir Mittag, nachmittags drehen wir.
    Sonntags gehen wir in die Kirche. Den halben Tag sind wir jetzt
    protestantische Bauern entfernt deutscher Abstammung, nachmittags werden sie zu
    Filmdarstellern: ferne Wesen, die laufen, beten und über Wasser gehen, zwischen
    ihnen körperlose Filmemacher, die sie begleiten, auf Leinwänden, die von
    irgendwoher beschienen werden.